Öffnung des Raums

Blau ist "Neuland" -  so empfand es eine Versuchsperson im Assoziationsexperiment von Verena Kast. Weite und Entgrenztheit des Himmels und der Meere machen Blau zur Farbe des Fernwehs und des Aufbruchs ins Unbekannte, zur Farbe des Unbestimmten und Möglichen, der Phantasie und nicht zuletzt der Täuschung.

Die anziehende Farbe der Ferne

Goethe schrieb in seiner Farbenlehre: "Diese Farbe macht für das Auge eine sonderbare, fast unaussprechliche Wirkung. (…) Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Fläche auch vor uns zurückzuweichen. Wie wir einen angenehmen Gegenstand, der vor uns flieht gern verfolgen, so sehen wir das Blau gern an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht." Auch der Maler Wassily Kandinsky beschrieb diese seltsame Anziehungskraft des fernen Blau, indem er dessen Wirkung mit der Wirkung von Gelb verglich: "Wenn man zwei Kreise macht von gleicher Größe und einen mit Gelb füllt und den andern mit Blau, so merkt man schon bei kurzer Konzentrierung auf diese Kreise, dass das Gelb ausstrahlt, eine Bewegung aus dem Zentrum bekommt und sich beinahe sichtbar dem Menschen nähert. Das Blau aber eine konzentrische Bewegung entwickelt (wie eine Schnecke, die sich in ihr Häuschen verkriecht), und vom Menschen sich entfernt. Vom ersten Kreis wird das Auge gestochen, während es in den zweiten versinkt".

Aus diesem Grund ist Blau eine beliebte Hintergrundfarbe - Blau schafft Raum. Blau täuscht Ferne vor, heißt es in einem Ratgeber für Gartengestaltung - "so gewinnt ein kleiner Garten mit blauen Blüten im Hintergrund Tiefe".

Ins Blaue hinein: Mein blauer Zufall am Horizont

Blau ist die verheißungsvolle Ferne, mit der wir uns manchmal wegträumen aus den Reglementierungen und Begrenzungen des alltäglichen Lebens. Blau ist die Sphäre des Möglichen, noch Unbestimmten. Ohne Plan und Ziel, dem Zufall überlassen: so ins Blaue hinein fahren, heißt sich neuen Begegnungen und Erfahrungen öffnen. Und wenn wir ins Blaue hinein denken, reden oder fabulieren, uns dabei der eigenen Intuition oder Phantasie überlassen, dann kann das festgefahrene Sicht- und Denkweisen aufbrechen, neue Wege erschließen. Der Schuss ins Blaue trifft nicht selten ins Schwarze.

Das Blau Derek Jarmans

"Blue" hieß der Film des britischen Regisseurs Derek Jarman, der ein Jahr vor seinem Tod erschien. Der Film zeigt keinen Ort, keine Handlung - zu sehen ist reines Blau, 74 Minuten lang. Und zu hören ist eine Toncollage aus Geräuschen, Texten und Musik, in der Jarman persönliche Biografie, Geschichte und aktuelles Geschehen miteinander verwebt hat. Hätte Jarman auch einfach ein Hörspiel machen können? Die Wirkung wäre nicht die gleiche: die blaue Leinwand hebt das Erzählte in einen überzeitlichen Zusammenhang und und regt die Zuschauer an, ihren eigenen, imaginären Film in die sich ergebenden Freiräume zu projizieren. Denn Blau ist das Medium des freien Flugs der schöpferischen Phantasie. "Im einfachen Blau des Himmels wiegt die Seele ihre Flügel auf und nieder", schrieb einst der Dichter Jean Paul in seinem Essay "Über die natürliche Magie der Einbildungskraft".

Luftgespinste im blauen Dunst

Phantasie bedeutet aber nicht nur Neuschöpfung, Möglichkeitssinn. Ihre andere Seite ist die des Realitätsverlustes, des Flüchtigen, das keinen Bestand hat, der Phantasterei, der Täuschung. Entsprechend wird die Farbe Blau auch mit diesen Eigenschaften in Verbindung gebracht.

Wer das Blaue vom Himmel herunter erzählt, lügt, entweder weil er selber unter Realitätsverlust leidet oder weil er sein Spiel damit treibt, wie Käpt'n Blaubär, der Comic-Bär von Walter Moers mit seinem Seemannsgarn. Eine Zeitungsente hieß früher "blaue Ente", wohl weil sie ein von irgendwoher zugeflogenes Phantasieprodukt ist. Und der Realitätsverlust im Alkoholrausch wurde sprichwörtlich zum "Blau-Sein".

Wolken
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